Eigentlich hatten wir uns die Anreise zum brasilianischen Pantanal, dem grössten Feuchtgebiet der Erde – und Lebensraum des brasilianischen Riesenotters – komplizierter vorgestellt. Der Flug von São Paulo über Brasília verlief ohne Zwischenfälle, und wir landeten pünktlich in Cuiabá, der Hauptstadt von Mato Grosso, wo wir bereits von unserem Tourguide erwartet wurden, der sich uns in etwas gewöhnungsbedürftigem Englisch als Antonio vorstellte. Es war bereits Nachmittag und zu spät, um direkt ins Pantanal zu starten, also brachte uns Antonio zu einem Hotel, das in unserem gebuchten Pantanal-Paket bereits inbegriffen war.
Nach einem sehr frühen Morgenkaffee, bei dem uns die vielen Früchte besonders mundeten – eine brasilientypische Ergänzung zum üppigen Frühstück – erschien Antonio um Punkt 7:00 Uhr, um uns abzuholen. Als wir mit unseren Rucksäcken vor das Hotel traten, staunten wir erst einmal über unser Transportfahrzeug: einen umgebauten Jeep mit Allradantrieb und einer offenen Ladefläche, die mit bequemen Sitzbänken bestückt war – sogar Gurte zum Anschnallen waren da. Antonio stellte uns den Fahrer in der Kabine vor und kletterte dann mit uns auf die Ladefläche. Wir schnallten uns an – und los gings…
Die ersten einhundert Kilometer, auf asphaltierter Strasse bis zu dem Örtchen Poconé, schafften wir in weniger als zwei Stunden – unterwegs genossen wir den warmen Fahrtwind auf unserer mobilen Veranda und Antonio machte uns auf einen Trupp Nandus (Rhea americana) aufmerksam, die in der leicht gewellten, trockenen Savannenlandschaft kaum zu erkennen waren.
Hinter Poconé drosselt unser Fahrer das Tempo, der Asphalt geht hier in eine Erdpiste über, das plötzliche Rütteln durch Unebenheiten und Schlaglöcher spüren wir bis ins Zahnfleisch, wie gut, dass wir angeschnallt sind – hier beginnt die so genannte “Transpantaneira“. Diese prekäre Erdstrasse erfüllt weder den “Trans-Anspruch“ ihres stolzen Namens, noch ist sie je zu einer zuverlässigen Landstrasse ausgebaut worden. Eröffnet in den 1970er Jahren, endet sie abrupt in dem kleinen Fischerdorf Porto Jofre, am Rio Cuiabá, 147 Kilometer südlich von Poconé. Die Bundesstaaten Mato Grosso (wo wir uns befinden) und Mato Grosso do Sul haben sich nie über ihren weiteren Ausbau einigen können – noch über ihre Verbesserungen oder gar Asphaltierung. Andererseits ist dies eine positive Entwicklung für die Tiere wie für Touristen gleichermassen. Wäre die Piste asphaltiert, würde man sie häufiger und mit höherem Tempo befahren, viele Tiere würden getötet, andere würden die Strasse meiden, und das grossartige Spektakel, das die Tiere heute noch an ihrer Peripherie und oft sogar mitten auf der Piste bieten, wäre ein für alle Mal verloren.
Apropos Spektakel: Schon nach wenigen Kilometern auf der Piste, die immer wieder über aufgeschüttete Dämme führt, zeigt sich uns die überraschende Vielfalt der Pantanal-Fauna auf beiden Seiten. Um Lagunen und Tümpel herum liegen Kaimane verschiedener Grössen dösend in der Sonne, Jabiru- und Maguary-Störche stolzieren zwischen ihnen herum und stochern nach Schnecken und Muscheln im feuchten Uferschlamm, winzige Jacanã-Wasserhühnchen huschen über die breiten Blätter der Wasserpflanzen, und in der Luft kreisen Schwärme von Reihern und auch ein paar Raubvögel.
Wir halten öfter mal an, um uns von der Rüttelei zu erholen und die Beine zu vertreten, aber vor allem, um ein paar Fotos zu machen. Plötzlich entdecken wir auf der rechten Seite der Piste drei grosse, dunkelbraune Riesenotter – da sind sie, die Nummer Vier der “Grossen Fünf“, die wir unbedingt in freier Wildbahn erleben wollten – einfach so, ohne irgendwelche Anstrengungen unsererseits, haben wir sie vor die Kamera.
Die als “nicht zu unterschätzende Raubtiere an der Spitze der Nahrungskette“ beschriebenen Otter, deren überraschende Angriffslust und respektable Reisszähne die grössten Kaimane und sogar den Jaguar auf Distanz halten, sehen einfach putzig aus. Sie räkeln sich in der Sonne auf einem grossen Felsblock am Rand einer Lagune. Wir sehen ihre weissen Kehlflecken, an denen die Wissenschaftler diese Spezies erkennen, und ihre grossen, gewölbten Augen. Das Wasser vor ihnen sieht fast idyllisch aus – voller Pflanzen und sehr sauber. Die Lagune ist in diesem Fall von Menschenhand angelegt und Teil einer viele Kilometer langen Kette von Gräben, die man zur Aufschüttung der Transpantaneira ausgehoben hat, und die nun als Pisten-Damm zwischen ihnen verläuft. Mit den ersten Regenfällen haben sich die Gräben mit Wasser gefüllt, und dann haben Flora und Fauna sie ins Gesamtbild des Pantanals integriert.
Die Otter beobachten uns genauso wie wir sie. Sie scheinen sich an unserem Fahrzeug nicht zu stören, auch nicht an den auf sie gerichteten Kameras. Aber schliesslich gleiten sie doch ins Wasser und verschwinden unter den breiten Blättern der Wasserpflanzen.
Wie schon die anderen Begegnungen mit Tieren am Rand der Piste, finden wir auch diese zwar schön, aber zu kurz, doch Antonio versichert uns, dass wir später noch öfter Gelegenheit bekommen werden, die Riesenotter zu beobachten. In Porto Jofre, am rechten, dem Nordufer des Rio Cuiabá, besteigen wir ein Motorboot und erreichen binnen fünf Minuten unser “Flotel“ (Abkürzung aus Fluss+Hotel) – ein umgebautes Fischereischiff, das jetzt mit einem Dutzend Kabinen (mit Aircondition) und herrlichen Ausblicken auf die Landschaftsidylle, dem Tourismus zur Verfügung steht.
Wir genossen vier Tage auf dem Schiff, rund um Porto Jofre, und machten mit kleineren Motorbooten Ausflüge in verschiedene Nebenflüsse und Flussarme. Wir entdeckten eine gelbe Anakonda auf einer Sandbank, beobachteten grosse Capivara-Familien, die in Formation schwammen, und liessen uns auf Kanälen treiben, um Kaimane in sumpfigen Buchten zu fotografieren, einen Kranich, der nach Futter suchte und einen weissen Reiher, der einen grossen Fisch im Schnabel hielt. Noch während die Sonne langsam unterging, stürzten sich grosse Eisvögel ins vergoldete Wasser, und als am Abendhimmel die gelbe Scheibe des Vollmonds erschien, konnten wir riesige Fledermäuse beim Fischen beobachten.
Auch Riesenotter bekamen wir tatsächlich noch mehrmals vor unsere Kameras – manchmal sogar vom Flotel aus. Die interessanteste Begegnung mit ihnen hatten wir am Nachmittag des zweiten Tages: Wir fuhren einen kleineren Nebenfluss hinauf, als Antonio eine Bewegung unter einem Geflecht von herausragenden Baumwurzeln am Ufer auffiel. Unser Bootsführer (er ist auch der Jeep-Fahrer), stellte den Motor ab und wendete es geschickt dem Ufer zu.
Zuerst erkennen wir nur ein paar Schatten, aber dann entwickelt sich ein unerwartetes Drama vor unseren Augen. Ein paar junge Otter beginnen verspielt, aber recht lautstark, ihr Anrecht auf einen grossen, gepunkteten Pintado-Fisch geltend zu machen. Da das Licht unter dem Wurzelgeflecht am Ufer nicht das Beste ist, lege ich die Kamera weg und beschränke mich aufs Beobachten. Einer der Otter beisst ein Stück aus dem Fisch heraus, während ein anderer sich blitzschnell auf den Fisch stürzt – mit einem Schrei, der wie “Ha-jaa“ klingt, und mich an Kinder erinnert, wenn sie Kung-fu spielen – er packt den Fisch, taucht im Wasser unter und an anderer Stelle wieder auf, den Fisch immer noch fest im Maul. Wird er verfolgt, wiederholt sich das Spiel – wenn nicht, tut er sich nun seinerseits an der Beute gütlich.
Zur selben Zeit kommen andere Otter aus ihrer Höhle unter den Baumwurzeln, um uns zu betrachten. Dazu heben sie sich bis zur weiss gefleckten Brust aus dem Wasser, recken ihre Köpfe und drehen sie in alle Richtungen – machen jedoch nicht den Eindruck, als ob sie durch unsere Anwesenheit unter Stress stehen. Ein grosses, ausgewachsenes Männchen, bestimmt um die anderthalb Meter lang, schwimmt zum Ufer und klettert den steilen Abhang hoch um, so meint der Bootsführer, “aufs Klo zu gehen“. Ob er wohl angesichts der ihn beobachtenden rosa Säugetiere auf dem Boot sein Territorium markieren will? Oder musste er nur einfach mal?
Im Pantanal kann man Riesenotter relativ leicht entdecken und beobachten, jedoch sind ihre Populationen insgesamt gering. Tatsächlich gelten von den “Grossen Fünf“, offiziell nur die Otter als “gefährdet“ (die anderen gelten als “verwundbar“), eine traurige Tatsache. Es sind sympathische, intelligente Säugetiere, und unter den ersten Vier unserer “Grossen Fünf“ bei weitem die unterhaltsamsten Tiere für einen Beobachter. Unsere Nummer Eins, der Grosse Ameisenbär (Myrmecophaga tridactyla), kam uns irgendwie komisch und surreal vor – die Nummer Zwei, der Tapir (Tapirus terrestris), gelassen und fremdartig – die Nummer Drei, den Mähnenwolf (Chrysocyon brachyurus), fanden wir sanft und scheu, während wir die Riesenotter (Pteronura brasiliensis), als Nummer Vier, als sozial, bewegungsschnell, raffiniert und selbstsicher bezeichnen würden.
Wenn man allerdings Schönheit mit Stärke und der Fähigkeit verbindet, alle Vögel zu Alarmrufen zu veranlassen, und die anderen Säugetiere in die Flucht zu schlagen, hat der Riesenotter wahrscheinlich nur einen einzigen Rivalen, nämlich die Nummer Fünf – den Jaguar (Panthera onca). Auch seinetwegen sind wir ins Pantanal gereist und, wie Antonio uns versprochen hat, werden die nächsten Tage dazu verwenden, ihn aufzuspüren…
Der Brasilianische Riesenotter im Detail
Sein wissenschaftlicher Name ist Pteronura brasiliensis, er gehört zur Gattung der Fleischfresser (Carnivora) und ist in Brasilien populär unter dem Namen “Ariranha“. Er ist ein naher Verwandter des Fischotters (Lontra longicaudis), jedoch wesentlich grösser als dieser: bis zu 2,20 Meter Länge kann er erreichen. Sein Schwanz ist besonders muskulös an der Basis und im letzten Drittel abgeflacht, das Tier benutzt ihn als Steuer im Wasser. Sein Fell ist kurz, sehr dicht und von dunkelbrauner Färbung. Die Beine sind kurz, mit breiten Füssen, und die Zehen mit einer Membran verbunden. Die Spezies lässt sich leicht an ihren gelblich-weissen Flecken auf Hals und Brust identifizieren.
Wie die Fischotter treten Riesenotter in Gruppen auf und leben an den Flussufern, in die sie ihre Höhlen graben. Sie sind tagaktiv und spezialisiert auf grosse Fische, können aber auch Krustentiere, Muscheln und andere Wirbeltiere verzehren, wie Schlangen und junge Kaimane, verschmähen auch kleinere Säugetiere und Wasservögel nicht, sowie deren Eier und Jungtiere. Die Beute wird mit dem Maul gefangen und dann mit den Vorderpfoten festgehalten, um so verzehrt zu werden – oft schwimmen die Otter dabei auf dem Rücken. Durch ihre Grösse, und besonders ihr starkes Gebiss, weichen sie auch vor grösseren Tieren nicht zurück, und es gibt sogar Fälle, in denen sie Menschen angegriffen habe, die in ihr Territorium eingedrungen sind.
Die ersten Zuchterfolge in Gefangenschaft gelangen der “Fundação Zoológica de Brasília“, wo diese Tiere sich in einem der Natur nachempfundenen Ambiente wohlfühlen können. Allerdings ereignete sich in eben diesem Ambiente der Riesenotter eine tragische Episode: Ein Sergeant des Brasilianischen Heeres sprang in das Ariranha-Becken, um einen kleinen Jungen zu retten, der dort hineingefallen war – es gelang ihm zwar, den unverletzten Jungen zu bergen, aber er selbst starb wenige Tage danach an einer Gesamtkörperinfektion, aufgrund der unzähligen Bisswunden, die ihm die Otter zugefügt hatten.
Geografische Verbreitung
Gegenwärtig findet man den Riesenotter an den Flüssen der zentralen Ostregion Amazoniens, in Brasilien, in Venezuela, in Guyana, Paraguay und Uruguay. Einige Exemplare gibt es auch in Ecuador, Peru und Kolumbien.
Lebensraum
Feuchte Regionen, Flüsse, Seen, Sumpfgebiete und insbesondere die schwarzen Gewässer des Amazonasbeckens.
Eigenschaften
Der Riesenotter ist, sein Name deutet es an, der grösste Otter der Welt, erreicht mehr als zwei Meter Länge (inklusive Schwanz) und ein Gewicht bis zu 34 Kilogramm. Er ist in Amazonien weit verbreitet, wo er einst viel häufiger war.
Riesenotter leben in familiären Verbänden von 4 bis 8 Individuen, die sich aus dem monogamen, reproduktiven Paar und ein paar Nachkommen zusammensetzen. Es gibt auch grössere, zeitlich begrenzte Verbände, zu denen sich verschiedene Familien zusammenschliessen – manchmal bis zu 20 Individuen. Die Tiere kommunizieren mittels unterschiedlicher Lautäusserungen miteinander, neun davon wurden bereits studiert und interpretiert. Das Territorium einer Gruppe erreicht zirka 12 Quadratkilometer.
Reproduktion
Die Reproduktionsphase fällt in die Regenperiode, etwa zwischen Dezember und März und resultiert in einer Tragzeit zwischen 65 und 70 Tagen. Dann bringt das Weibchen einen Wurf von zwei bis fünf Jungen zur Welt, die mit geschlossenen Augen geboren werden und um die 200 Gramm wiegen. Sie werden vehement verteidigt, indem sich die gesamte Gruppe auf einen vermeintlichen Feind stürzt. Die Jungtiere verbleiben einige Tage lang in ihrer Höhle, jedoch bevor sie einen Monat alt sind, gehen sie schon mit ihrer Mutter ins Wasser, sind jedoch erst nach drei Monaten in der Lage zu schwimmen und sich selbst zu ernähren. Ihre geschlechtliche Reife erreichen sie nach zwei bis drei Jahren.
Schutzmassnahmen
Die Jagd zur Kommerzialisierung der wertvollen Pelze hat dazu beigetragen, die Populationen der Riesenotter drastisch zu dezimieren, aber nicht nur das: Die schlimmste Bedrohung ist auch in diesem Fall die Waldabholzung und die Zerstörung ihres Lebensraumes. Die Verschmutzung der Flüsse, besonders durch Rückstände der Mineralienausbeutung, fordern ebenfalls ihre Opfer unter den Ottern, die sich von den durch Metalle kontaminierten Fischen ernähren. Unter diesen Metallen, die Flüsse und Fische vergiften und viele andere Tierarten die in und von ihnen leben, ist in erster Linie das Quecksilber zu nennen, das bei der Extraktion von Gold verwendet wird. Darüber hinaus sind auch die agro-toxischen Insektenvertilgungsmittel und andere Gifte, die in die Flüsse geleitet werden, in nicht unerheblichem Masse beteiligt an dieser prekären Situation, durch die diese Tiere an die Grenze der Ausrottung gebracht wurden. Inzwischen steigen ihre Zahlen wieder in den Schutzzonen, sie werden jedoch immer noch als selten betrachtet.
Die Spezies der Riesenotter steht in Brasilien, Peru, Ecuador und Kolumbien zwar unter Naturschutz, jedoch wegen der isolierten Territorien, die diese Tiere bewohnen, ist es schwierig, entsprechende Kontrollen durchzuführen, und so werden sie immer noch Opfer illegaler Pelztierjäger. Und weil sie die gleichen Fischarten bevorzugen wie die Menschen, haben sie sich bei den Fischern äusserst unbeliebt gemacht, denn immerhin verzehrt ein ausgewachsener Riesenotter zirka drei bis vier Kilogramm Fisch pro Tag! Deshalb scheuen sich einige skrupellose Fischer auch heute noch nicht, diese wunderbaren Tiere einfach zu erschlagen.
Man schätzt, dass nur wenige Tausend dieser wundervollen Tiere in freier Wildbahn überlebt haben. In Gefangenschaft gibt es ebenfalls nur wenige Exemplare, davon die meisten in südamerikanischen Zoos – in brasilianischen Zoos leben gerade mal 16 Riesenotter.