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Tatu – Gürteltier

Veröffentlicht am 12. Mai 2012 - 10:17h

In Brasilien ist das Tatu jedem Kind bekannt – jedoch noch kaum wissenschaftlich erforscht. Zwei klingende Silben, die leicht auszusprechen sind, haben das “Tatu“ zu einer Referenz für Kinder gemacht, die im Begriff sind, das Alphabet zu lernen.

Das “Tatu“ ist allerdings eines der wenigen einheimischen Tiere, die im Alphabet der brasilianischen Schulkinder auftauchen – an der Seite von traditionellen “Ausländern“ wie “Elefante“ für den Buchstaben “E“, die “Girafa“ für den Buchstaben “G“, das “Hipopótamo“ des Buchstabens “H“ und das “Zebra“ des Buchstabens “Z“.

Eine Frage an unsere deutschen Leser: Haben Sie schon erraten, um welches Tier es sich handelt? Nun, es ist ein typisches Tier der tropischen Hemisphäre, deshalb ist es sicher keine Lücke in Ihrem Allgemeinwissen, wenn ihnen sein brasilianischer Name nichts sagt. Wie in so vielen Fällen stammt dieser Name aus der indigenen Tupi-Sprache und bezieht sich auf das Hauptmerkmal des Tieres, seinen schützenden Knochenpanzer (ta = hart und tu = dick). Die besondere Popularität des “Tatu“ scheint sich aber von der Tatsache abzuleiten, dass der grösste Teil dieser Spezies recht häufig anzutreffen ist. Na, dämmert es Ihnen jetzt?

Leider wird es von den Einheimischen auch als Braten auf dem Tisch sehr geschätzt. Obwohl die Jagd jedweder der elf brasilianischen Arten gesetzlich verboten ist. Aber dieses Gesetz wird in der Regel ignoriert (wie so viele brasilianische Gesetze) und das Fleisch des armen Tieres landet sogar auf dem Grill der ärmeren Bevölkerung, auch weil es möglich ist – und einfach – ein Tatu ohne Feuerwaffe zu fangen, nämlich mit hausgemachten Fallen oder sogar direkt mit der Hand, indem man es am Schwanz packt, wenn es in seiner Höhle verschwinden will. Ob Sie’s wohl jetzt erraten haben, um welches Tier es sich handelt?

Und weil man das Tierchen schnell und einfach in seinem eigenen Panzer kochen, braten oder grillen kann, trägt dieser Umstand ebenfalls zur Gelegenheitsjagd bei. In der Regel sind die Leute gar nicht unterwegs, um Tatus zu jagen, aber wenn eines davon ihren Weg kreuzt, lassen sie die Chance selten aus, ihren Speiseplan zu bereichern. Dieses eingefleischte Verhalten der Einheimischen durch Tatu-Schutzprojekte zu ändern ist mehr als eine undankbare Aufgabe. Es ist eine fast unmögliche Mission – trotzdem gibt es ein paar Wissenschaftler, die bereit sind, zur Erhaltung des “Tatu“ die Ärmel hochzukrempeln.

Für diejenigen unserer Leser, die immer noch ratlos sind, wollen wir an dieser Stelle erst einmal die Auflösung bringen: Der volkstümliche, brasilianische Name “Tatu“ bezeichnet die Gattung der “Gürteltiere“ (Dasypodidae), von denen es verschiedene Arten gibt – in Brasilien sind es, wie gesagt, 11 verschiedene Arten.

Seit den letzten zwei Jahren sucht eine Gruppe von Wissenschaftlern, die von Leandro Silveira koordiniert wird, den Nationalpark “Parque Nacional das Emas“ systematisch nach Exemplaren des “Tatu-canastra“ (Priodontes maximus) ab, dem grössten Vertreter und auch dem bedrohtesten der Gattung. Die eingefangenen Tiere werden vermessen, gewogen, und mit einem Radiotransmitter ausgerüstet, wieder in die Freiheit entlassen. “Unsere Unkenntnis hinsichtlich der Gürteltiere ist so gross, dass wir auf diese Überwachungsmethode zurückgreifen müssen, obwohl wir wissen, dass die Tiere, die sich in der dichtesten Vegetation bewegen und in enge Löcher kriechen, den Transmitter schon nach kurzer Zeit wieder abstreifen“, erzählt Silveira.
Die sieben von seiner Equipe verfolgten Gürteltiere verblieben mit ihren Transmittern nur drei Monate lang – während Jaguare und Pumas, zum Beispiel, ihr Halsband bis zu zwei Jahren mit sich herumtragen. “Die nächsten “Tatus“, die wir fangen werden, bekommen einen Chip in die Innenseite des Knochenpanzers eingepflanzt, damit können wir eine längere Zeit zur Beobachtung einplanen“, sagt er.

Im vergangenen Jahr erhielt das “Projekt Tatu-Canastra“ eine Zuwendung der NGO (nicht governamentalen Organisation) “Conservação Internacional (CI-Brasil) von US$ 60.000 – damit kann das Projekt um mindestens zwei weitere Jahre fortgesetzt werden. Eine gute Nachricht unter den ersten Ergebnissen der Studie ist die, dass die Schätzung der Anzahl von Tatu-canastra-Spezies im Nationalpark “Das Emas“ mit 60 Exemplaren alle anfänglichen Vorstellungen übertrifft.

Weitere positive Aspekte sind die geringe Zahl an überfahrenen Tieren und das Fehlen jeglicher Interaktion mit Haustieren, was diese Spezies von einer eventuellen Übertragung durch Krankheitserreger befreit. So wie es aussieht, tolerieren diese Gürteltiere eine Überlagerung ihres individuellen Lebensraums, obwohl jedes Tier normalerweise 1.000 bis 3.000 Hektar Lebensraum für sich allein beansprucht.

“Das “Canastra“ ist in der Tat nachtaktiv, seine vorwiegende Aktivität liegt zwischen Mitternacht und 4:00 Uhr morgens. Danach schlüpft es in sein Loch und fällt in tiefen Schlaf, was es den Jägern ein leichtes macht sie zu fangen, wenn sie graben. Und die Höhle zu finden ist ebenfalls denkbar einfach, denn das Tier hinterlässt eine gut erkennbare Spur niedergetretenen Grases“, bemerkt Silveira.

“Eine weitere Verletzlichkeit besteht in seiner Nahrung – es ist wesentlich mehr auf Termiten spezialisiert als andere Tatu-Arten, die sich von einer grösseren Insektenvielfalt ernähren, ausserdem auch Wurzeln, Früchte und sogar kleine Wirbeltiere fressen, wie Eidechsen und Frösche. Und je spezialisierter ein Tier ist, desto eher ist es von der Ausrottung bedroht“.

Die Tatsache, ein Spezialist zu sein, beeinträchtigt auch seine Toleranz gegenüber Veränderungen seines Lebensraumes. Das “Tatu-canastra“ lässt sich nicht auf Agrarflächen oder aktiv genutzten Weiden nieder, und das macht aus dem Verlust seines Lebensraumes ein grosses Problem für sein Überleben – neben der Nachstellung durch Jäger. Und diese Spezies ist noch mehr bedroht, wenn wir ihre niedrige Reproduktionsrate in Betracht ziehen: Die Trächtigkeit dauert verhältnismässig lang (die genaue Zeit ist nicht bekannt), nur ein einziges Junges wird geboren, das von der Mutter wenigstens drei Monate lang versorgt wird.

Das gleiche Problem stellt sich bei den zwei Arten der kleinen “Tatus-bola“ (Tolypeutes tricinctus und Tolypeutes matacus), den “Kugeltieren“ – sie bevorzugen ebenfalls hauptsächlich Termiten und Ameisen, und sie setzen auch nur ein Junges pro Jahr in die Welt. Sehr viel stärker verbreitet, ausserdem weniger anspruchsvoll hinsichtlich ihres Lebensraums, sind die Arten der Gattung Dasypus, sie sind gegenüber den grössten und kleinsten Tatus gewaltig im Vorteil. Das “Tatu-galinha”, das “Tatu-quinze-quilos”, das “Tatu-mulita” und das “Tatuí” (oder wissenschaftlich: Dasypus novemcinctus, Dasypus kappleri, Dasypus hybridus und Dasypus septemcinctus) haben Würfe zwischen 4 und 12 Jungen. Kurios ist, dass diese Jungen stets eineiige Zwillinge sind – das heisst, identisch in jedem Detail, auch im Geschlecht.

Eine andere Forschungsrichtung, für die die Gürteltiere unersetzlich sind, ist die Biomedizin – genauer, die Suche nach einer Heilung der Hanseniase (Lepra). Gürteltiere der Gattung Dasypus sind die einzigen Tiere – ausser dem Menschen selbst – in deren Organismus sich der Lepra-Bazillus (Mycobacterium leprae) entwickeln kann. Auf der einen Seite untersuchen Forscher der “Fundação Oswaldo Cruz“ (Fiocruz) die Bedeutung des Tatu als Wirt (und Überträger) der Hanseniase. Auf der andern Seite benutzen sie das “Tatu-galinha“ als Tiermodell zur Entwicklung eines Impfstoffes.

Darüber hinaus erforschen Wissenschaftler der Fiocruz auch die Verbindung einiger Lungenkrankheiten mit der Jagd und dem Verzehr von Gürteltierfleisch. Man nennt sie “Kokzidioidomykose”, eine Krankheit, die vom Pilz “Cocciodioides immitis“ hervorgerufen wird – wenn man seine Sporen einatmet, installiert er sich im menschlichen Atmungssystem und kann selbst bei jungen, kräftigen Personen zum Tod führen. Die Präsenz dieses Pilzes wurde in der Lunge zweier Cousins von 19 und 20 Jahren festgestellt, die erkrankten und einige Wochen nach einer gemeinsamen Jagd des “Tatu-galinha“ starben.

In der vom Muttertier gegrabenen Erdhöhle kommen die Jungen zur Welt. “Aber keine Gürteltierart verbleibt lange Zeit in derselben Höhle – die Muttertiere pflegen ihre Jungen sicherheitshalber mehrere Male in andere Höhlen umzuquartieren, solange sie sich unter ihrer Obhut befinden“. Die verlassenen Erdlöcher dienen einer Vielfalt von anderen Tieren als Unterschlupf – inklusive Schlangen. Diese Tatsache inspirierte die Einheimischen zu den phantastischsten Legenden.

Wie sich die Latexsammler und Indios Ashaninka aus dem Acre (Bundesstaat Acre) erzählen, lebt das “Tatu-verdadeiro“ (auch “Tatuí“ genannt) innerhalb seiner Höhle in Harmonie mit der grössten Giftschlange Brasiliens, der “Surucucu-pico-de-jaca (Lachesis muta – Buschmeister). Für die Ashaninka-Indios ist das “Tatuí-Gürteltier“ sogar verwandt mit der “Surucucu-Schlange“, denn die Köpfe der Beiden gleichen sich sehr.

Die stabilen Temperaturen im Erdboden sind für alle Gürteltiere von grosser Bedeutung. So wie die Ameisenbären und die Faultiere, Säugetiere der Gattung Xenarthra (zu denen auch die Gürteltiere gehören), haben sie ebenfalls Probleme hinsichtlich der Kontrolle ihrer Körpertemperatur. Die kleinen “Tatus-bola“ (Kugeltiere) haben dagegen einen interessanten Mechanismus entwickelt, um diesem Problem beizukommen: Durch verschiedene Hohlräume in ihrem Panzer, in denen sie Luft speichern, bilden sie so eine thermische Isolationsschicht.

Wenn man einem solchen “Kugeltierchen“ aus der Gattung Tolypeutes mal zugesehen hat, wie es sich zu einer perfekten Kugel einzurollen versteht, kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus. Weil sein Panzer noch härter ist als der seiner grösseren Familienmitglieder und sogar fest schliesst, werden sie von den meisten natürlichen Beutejägern verschont – unter ihnen der Mähnenwolf, die Wildhunde und auch die Grosskatzen, zählt Flavio Rodrigues auf. Nur dem Menschen können sie leider nicht entkommen, und darin unterscheiden sie sich nicht von allen anderen “Tatus“ – ob sie nun grösser oder kleiner sind, und egal in welchem Teil Brasiliens sie leben.

Aus der Geschichte

Die Gürteltiere stammen aus Südamerika und waren einst viel grösser – und es gab viel mehr Arten von ihnen. Das war zur Zeit des so genannten Tertiärs – vor 60.000 bis 2 Millionen Jahren. Wahrhaftige Gigante, wie der Doedicurus clavicaudatus lebten damals auf den Savannen der südlichen Halbkugel, wo sie von primitiven Menschen gejagt wurden, die aus ihrem Panzer wahrscheinlich nützliche Gegenstände zu ihrem Schutz anfertigten. Einer dieser Vorfahren der heutigen brasilianischen Tatu konnte 4,3 Meter Länge mal 2 Meter Höhe erreichen und ein geschätztes Gewicht von 2 Tonnen. Einige ihrer Panzer wurden praktisch intakt in paläontologischen Fundstätten Argentiniens und Uruguays ausgegraben und befinden sich heute in Museen dieser Regionen und in Europa.

Auch in Amazonien, in Steilufern der “Terra firme“ entlang des Rio Solimões, hat man mehrere “Glyptodonten“ gefunden, wie diese prähistorischen Gürteltiere genannt werden. Sie waren Pflanzenfresser und besassen einen äusserst harten Knochenpanzer. Einige dieser Spezies besassen auch einen besonderen Kopfschutz, fast wie ein Helm, und eine besondere Waffe am Schwanzende: eine Knochenmasse mit Stacheln, ähnlich der Keulen der antiken Gladiatoren.

Die Wirbelsäule war verwachsen, ein Umstand, der die Bewegungsfähigkeit dieser Tiere einschränkte und vielleicht ihr schwächster Punkt gegenüber den menschlichen Jägern darstellte. Zusammen mit dem Fossil eines Glyptodonten, den man in “Azul“ (Argentinien) fand, wurden auch Werkzeuge aus Quarz ausgegraben, was bedeutet, das die humanen Jäger offensichtlich damit das “Riesen-Tatu“ zerlegt haben.

Das Verschwinden von diversen Vorfahren der heutigen Gürteltiere ist gar nicht so lange her – der Gigant Panochtus intermedius von vier Metern Länge, zum Beispiel, verschwand erst vor zirka 8.500 Jahren. Ein weiterer Beweis für die uralte Tradition der Gürteltierjagd befindet sich auf den steinernen Wänden von Grotten und Höhlen der “Serra da Capivara“ im Bundesstaat Piauí – in den dortigen Höhlenzeichnungen sind die “Tatu-Ahnen“ deutlich zu erkennen.