Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem ich während einem meiner Angelausflüge Senhor Mané kennengelernt habe – einen Indio, verheiratet mit Dona Elena, einer schwarzen Senhora, die aus einem “Quilombo“ am Ufer des Rio Paraguai stammte, einer Siedlung von Nachkommen ehemaliger Sklaven. Die Beiden wohnten schon seit vielen Jahren weiter oben am Fluss, und auf Einladung eines ihrer Söhne verbrachte ich ein paar schöne Tage in ihrem “Pau-a-pique“-Häuschen, einer typischen lokalen Konstruktion, die aus einem Holzgerüst besteht, dessen Zwischenräume mit einer feuchten Masse aus Lehm, vermischt mit gehacktem Palmstroh oder Reisig, ausgefüllt werden. Nach der Trocknung verputzt man die Wände mit einer weiteren Lehmschicht.
Das Dach war gedeckt mit mehreren Lagen von Blättern einer Palme, die im Pantanal “Indaiá“ genannt wird. Das Häuschen stand auf einer erhöhten Uferböschung über einer Flussbiegung voller Felsblöcke. Vom Fenster aus konnte man die grossen “Dourados“ (Salminus brasiliensis) beobachten, die im klaren Wasser zwischen den Steinen kleinere Fische jagten. Es war ein schönes Plätzchen, rustikal und bescheiden hinsichtlich seines Wohnkomforts – nichts für Touristen aus der modernen Welt – jedoch in den Augen eines Anglers, zum Beispiel, eine Vision vom Paradies, und für mich selbst wie eine Rückkehr in die Jahre, die ich unter den Indios verbracht habe. Es war rührend, wie mich diese einfachen Menschen aufnahmen, das Wenige, was sie hatten mit mir teilten und dafür sorgten, dass ich den besten Raum mit Aussicht auf den Fluss bekam, um darin meine Hängematte aufzuspannen.
Zwischen unseren Angeltouren und der einen oder anderen Ruhepause in meiner Hängematte, lauschte ich dann den Geschichten meines Gastgebers. Senhor Mané entpuppte sich als ein glänzender Erzähler und sein Repertoire als unerschöpflich – und ich war ein guter Zuhörer.
Nach einem unserer schönsten Angeltage, am späten Nachmittag, höre ich Dona Elena einen ihrer vier Söhne rufen, den Donato, ein Bürschchen von neun Jahren und trotz seines geringen Alters ein cleveres, aktives Kerlchen. Die Mutter muss nicht zweimal rufen – er ist sofort zur Stelle. “Donato, bring mir den roten Hahn, den Sohn der Samambaia (alle Hühner hatten Namen) – und kaum hat ihm Dona Elena ihren Auftrag übermittelt, flitzt der kleine Junge an mir vorbei ins Haus und kommt gleich wieder zurück mit einer Schleuder in der einen Hand und drei weissen, runden Kieselsteinen in der andern. Ich überlege, wofür er wohl die Schleuder brauchen könnte, und begebe mich dann vor die rückwärtige Tür zum Hinterhof, in dem die Hühner herumspazieren, um zu erleben, wie dieses kleine Bürschchen einen so grossen Hahn mit einer Steinschleuder erlegen wird.
Und dem Jungen rufe ich zu: “Wenn du diesen Hahn mit dem ersten Schuss erwischst, kriegst du von mir sofort zwanzig Reais“! “Also gut“, gibt der kleine Lausbub zurück – mein Augenzwinkern sieht er gar nicht mehr – ich höre das schwirrende Geräusch des Gummis und das Aufklatschen des Steins, der den Kopf des Hahns trifft und ihn umwirft – er liegt mit zerschmettertem Kopf am Boden und zappelt noch ein bisschen mit den Beinen. Donato hebt ihn auf und flüstert mir im Vorübergehen zu: “Senhor, sie müssen mir kein Geld geben, wenn ich es annehme, wird meine Mutter mit mir schimpfen“! Überrascht von seiner Reaktion, renne ich zu meinem Geldbeutel, nehme die zwanzig Reais und wende mich dann an seine Mutter: “Dona Elena, dieses Geld gehört dem Donato – er hat mich nicht darum gebeten, ich war es, der es ihm angeboten hat. Also bitte schimpfen Sie ihn nicht aus“!
Und mir geht das Herz auf, als ich den kleinen Jungen beobachte, dessen Freude über “so viel Geld” ihn zwischen den Hühnern ausgelassen herumtanzen lässt.
Nach der erfolgreichen Jagd auf den Hahn schickte ihn die Mutter aufs angrenzende Feld um ein paar grüne Maiskolben für eine Polenta abzubrechen, die sie zusammen mit dem Hahn auf den Tisch bringen wollte (Huhn mit Maisbrei ist in ganz Brasilien eine bekannte und beliebte Speise). Bald brach die Nacht herein, und auf dem Herd im Küchenanbau stand ein grosser Topf mit einem “Frango caipira ao molho“ (Bauernhuhn im eigenen Saft), daneben köchelte die Polenta, und als Beigabe hatte die exzellente Köchin noch schwarze Bohnen und Reis vorgesehen.
Ich kann Ihnen sagen, wenn man sich erst einmal an diese simplen Küchenrezepte und ihre manchmal etwas kuriosen Beigaben gewöhnt hat, dann streicheln die genauso den hungrigen Magen, wie das Menü eines Sterne-Restaurants, besonders wenn sie so exzellent gewürzt sind wie bei Dona Elena. Nach dem üppigen Mal setzte ich mich mit Mané auf die Bank vor dem Haus, er hatte eine Flasche Cachaça und zwei Becher mitgebracht, um seine Zunge zu ölen und mir ein bisschen bei der Verdauung zu helfen – und dann, nach ein paar “Pinguinhas“, erzählte er mir eine Geschichte, die mich erschüttert hat:
Es war am Waschtag, so genannt, weil sich Dona Elena an diesem Tag der gründlichen Säuberung eines Bündels schmutziger Wäsche am Flussufer zu widmen pflegt – in Begleitung ihrer beiden jüngeren Töchter, Marilena (8) und Cecília (7), die es gewohnt waren, ihr bei dieser Arbeit zur Hand zu gehen, indem sie die von der Mutter durchgewalkten Kleidungsstücke sorgfältig ausspülten, um sie hinterher auf dem Gras vor dem Häuschen zum Trocknen auszubreiten. Während die Mutter die Wäsche bearbeitete, blieb ihnen dazwischen auch Zeit zum Spielen und sich im Wasser des Flusses abzukühlen. Die Mädchen konnten schwimmen wie die Fische, deshalb war man auch nicht besorgt, wenn sie sich mal ein bisschen weiter vom Ufer entfernten. Cecilia, die von allen nur “Céci“ genannt wurde, war zwar ein Jahr jünger als ihre Schwester, ihr war jedoch ein geradezu sprühendes Temperament zu eigen, das von ihrer Mutter öfter mit Ermahnungen gezügelt werden musste und ihre Schwester verpflichtete, sie nicht aus den Augen zu lassen.
An jenem schicksalhaften Tag planschen die Beiden wie gewohnt im Wasser. Céci bewirft ihre Schwester mit Schlammklumpen, und als die zu ihrer Verfolgung ansetzt, schwimmt sie kichernd etwas weiter in den Fluss hinaus… Marilena sieht noch, wie Céci ganz plötzlich die Arme hochstreckt und vernimmt ihren gellenden Hilfeschrei – dann ist ihre kleine Schwester nicht mehr zu sehen, und nur ein paar kreisende Wasserstrudel markieren die Stelle, an der sie untergegangen ist… Marilena, von panischer Angst ergriffen, hastet zum Ufer, das Wasser ist hier nicht einmal tief, und sie kann ihre Beine benutzen, um sich schreiend zu ihrer Mutter zu flüchten, die hilflos am Ufer steht und die Arme nach ihrer Tochter ausstreckt…
Viele Tage lang haben die Eltern, Brüder und ein paar Nachbarn nach Cécis Körper gesucht – sie haben ihn nicht gefunden. Man nimmt an, dass es ein Unfall war, dass Céci ertrunken ist. Auch Mané, der die schlimme Nachricht vom Tod seiner Tochter erst am Abend der schrecklichen Tragödie erfuhr, nachdem er von seiner üblichen Angeltour zurück war, schliesst sich dieser Meinung an.
Dona Elena, die jedes Wort von Manés Bericht gehört hat, während sie das Geschirr abwäscht, unterbricht ihren Mann, kommt zu mir herüber und sagt: “Es war der “Minhocão“, Senhor Cláudio, ich hab’ das aufgewühlte Wasser gesehen, die Kreise, in denen Céci verschwand, nachdem er sie gepackt hatte… der Minhocão hat meine Tochter gefressen“! Und Mané senkt den Kopf und murmelt fast unhörbar “ja, es war der Verdammte“! Ich bin sprachlos über diese Tragödie, die die Beiden mir da offenbaren – eine betroffene Stille breitet sich zwischen uns aus…
Was den “Minhocão“ betrifft, er ist das Monster einer Pantanal-Legende, eine Riesenschlange, die sich an den tiefsten Stellen des Rio Paraguai aufhalten soll. Sie verschlingt Mensch und Tier, gräbt Tunnel in die Steilufer, sodass sie abbrechen und die Bäume im Wasser begraben, sie plündert die Netze der Fischer und kann ein Boot mit einem einzigen Schlag ihres Schwanzes versenken. Diese Legende ist in der Vorstellung der meisten Flussbewohner des Pantanals lebendig, und fast alle haben etwas erlebt, dass sie mit dem “Minhocão“ in Verbindung bringen.
Was mich an Senhor Manés Geschichte betroffen machte, war der Verlust seiner Tochter – nicht die Erklärung mit dem “Minhocão“. Wäre ich unter diesen Menschen und ihrem weit verbreiteten Aberglauben aufgewachsen, dann hätte mich diese Geschichte wahrscheinlich wesentlich mehr schockiert. Das lässt dagegen mein anerzogenes rationales Denken nicht zu. Nach meiner Meinung ist die kleine Céci einfach ertrunken – vielleicht wegen einem plötzlichen Krampf oder etwas ähnlichem, und die Wellen im Wasser, die Dona Elena gesehen hat, könnten auch von Wasserstrudeln ausgelöst worden sein, die in der Strömung entstehen und ein kleines Mädchen durchaus in die Tiefe ziehen können. Jedoch habe ich Senhor Manés Bericht in keinem Moment infrage gestellt oder irgendeinen Zweifel an Dona Elenas Überzeugung geäussert. Stattdessen habe ich zugehört und die Geschichte für mich behalten, um meine Freunde nicht mit einer logischen Erklärung zu verärgern.
Nach meinen Angelferien am Rio Paraguai kehrte ich mit einer enormen Bereicherung an neuem Wissen nach Hause zurück. Senhor Mané und Dona Elena leben noch und wohnen noch im selben Häuschen – zusammen mit Marilena, die bei ihrer Mutter geblieben ist. Dort führen sie ihr einfaches aber zufriedenes Leben. Ihre Söhne sind in die Stadt Cuiabá abgewandert, wo die einen arbeiten und die andern studieren. Immer wenn ich ein bisschen Zeit übrig habe, besuche ich die Beiden – zum Angeln mit Senhor Mané und um seinen interessanten Geschichten zu lauschen.
Autor: Klaus D. Günther
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