Der abgewetzte Ball rollt über die imaginäre Linie des aus zwei Stöcken gebastelten Tores. Doch der kleine Adriano hat das Fußballspiel für einen Augenblick völlig vergessen. Gemeinsam mit seinen Kameraden steht er auf der Wiese neben den Schienen und winkt dem rot-silbernen Ungetüm zu. Hinter den Scheiben sieht er Menschen zurückwinken, sofern diese ihn nicht gerade mit einer Handycam oder einem Fotoapparat anvisieren.
Es ist Samstagvormittag im südlichen Pantanal westlich von Campo Grande, der Hauptstadt des Bundesstaates Rio Grande do Sul. Hier in den kleinen Dörfern im entlegenen Hinterland Brasiliens passiert schon während der Woche nicht viel und am Wochenende noch viel weniger. Und damit wird der „Trem do Pantanal“ zum wichtigsten Ereignis des Tages.
Gemächlich stampft der Koloss mit seinen vier Waggons an dem improvisierten Fußballfeld vorbei und ist nach wenigen Minuten hinter der nächsten Kurve und der üppigen Vegetation verschwunden. Am Sonntagnachmittag wird er auf der Rückfahrt nochmals vorbeikommen und die Touristen zurück in die „Zivilisation“ der Provinzhauptstadt bringen. Das sind zweimal zwei Minuten Aufregung für Adriano und seine Freunde, die so gerne einmal mitfahren würden im legendären „Pantanal Express“.
Dass der Zug überhaupt wieder fährt, ist dabei den gemeinsamen Anstrengungen des brasilianischen Tourismusministeriums, der Tourismusbehörde des Bundesstaates Mato Grosso, den Verwaltungen der an der Strecke liegenden Gemeinden, der Eisenbahngesellschaft América Latina Logística (ALL) und des Veranstalters Serra Verde Express zu verdanken. Ziel des ehrgeizigen Vorhabens war, den Tourismus in der Region anzukurbeln und dafür die im Bereich des Personentransportes brachliegende Schienenstrecke zu reaktivieren.
Dabei machen die Verantwortlichen aus der Not eine Tugend. Aufgrund des schlechten Zustandes der Gleise darf der Zug nicht schneller als 35 Stundenkilometer fahren – und gerade dies ist der Aufhänger für diese einzigartige Spazierfahrt durch viel unberührte Natur, welche dadurch natürlich umso besser zu beobachten ist. In den klimatisierten Waggons lässt sich die Fahrt komfortabel genießen, die Zwischenstopps verwandeln die Reise zu einem entspannenden Ausflug. Hier ist tatsächlich noch der Weg das Ziel, die Langsamkeit wird zum Lebensgefühl.
Nach 18 Jahren Stillstand hatte der „Trem do Pantanal“ erst im Mai 2009 seine Fahrt wieder aufgenommen. Prominenter Gast bei der Wiedereröffnung war niemand geringeres als der damalige Staatspräsident Luiz Inácio Lula da Silva. Zwei Jahre wurde auf diesen Augenblick hingearbeitet, die Waggons renoviert und mit Klimaanlagen versehen, ein Abteil mit einer Bar und einer kleinen Tanzfläche sowie einem Podest für Livemusik ausgestattet. Zudem investierte die Betreibergesellschaft fast sieben Millionen Euro in die Reparatur der Schienenstrecke.
Die Trasse liegt dabei in üppiger Natur und muss daher extrem gewartet werden. Denn Bäume, Sträucher und Lianengewächse versuchen kontinuierlich, die von Menschenhand geschaffene Schneise zurück zu erobern. Immer wieder schlagen während der Fahrt daher Äste gegen die Waggons, alleine schon aus diesem Grund sind sämtliche Fenster verschlossen. Der Ausblick lohnt sich trotz allem: bunte Aras ziehen am Himmel vorbei, in der endlosen Weite grasen gewaltige Rinderherden und immer wieder überquert der Zug auf alten und manchmal auch ein wenig verrosteten Brücken kleinere und größere Flüsse. Und natürlich die kleinen Ortschaften und einzelnen Gehöfte entlang der Schienen mit fröhlich winkenden Kindern.
Seit der Jungfernfahrt mit seinen prominenten Passagieren folgt der „Trem do Pantanal“ nun regelmäßig den ausgefahrenen Gleisen. Für die Strecke von 220 Kilometern zwischen Campo Grande und Miranda benötigt er inklusive der Pausen über 10 Stunden, der Besucher muss also jede Menge Zeit mitbringen. Daher wird die volle Strecke auch nur am Wochenende angeboten. An Feiertagen gibt es eine verkürzte Version, welche die Ausflügler noch am selben Tag nach Campo Grande zurückbringt. Ansonsten steht eine Übernachtung am Zielort oder die Rückfahrt mit dem Nachtbus auf dem Programm.
Die gemächliche Reise wird jedoch nicht nur vom Beobachten der vorbeiziehenden Landschaft dominiert, auch der Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung ist gegeben. An mehreren Zwischenstopps bieten die Menschen sowohl kulinarische als auch handwerkliche Spezialitäten der Region an, die sich alleine schon aufgrund der geografischen Nähe zu Paraguay deutlich vom Rest Brasiliens unterscheiden. Auch ist die Begegnung mit in der Region lebenden Indianern der Ethnien Guatós, Kaiowá, Bororo, Umotina, Pareci und Kinikina ist möglich.
Die Zugfahrt ist allerdings etwas für Frühaufsteher. Denn bereits um 7:30 Uhr geht es an der etwas außerhalb von Campo Grande gelegenen Estação de Indubrasil los. In den drei Abteilen, in den 193 Fahrgäste Platz finden, wartet dann bereits der jeweilige Reiseführer. Dieser verteilt nicht nur die Lunchpakete, sondern hat auch viel über die Geschichte und Kultur der Region zu erzählen. Und damit keine Langeweile aufkommt, sorgt ein Alleinunterhalter mit lustigen Spielen und Darbietungen in den Abteilen für Abwechslung.
Nach einem ersten Stopp in Piraputanga gegen 11:30 Uhr erreicht der Tross mittlerweile hungriger Touristen gegen 12:30 Uhr Aquidauana. Dort hat der „Trem do Pantanal“ bis 15 Uhr Aufenthalt. So bleibt nicht nur Zeit für ein ausgiebiges Mittagessen, auch ein Rundgang durch die Kleinstadt mit seinen knapp 50.000 Einwohnern bietet sich an. Denn erneut Ausruhen kann man sich in den letzten drei Stunden der Fahrt, bis man in den Abendstunden mit Miranda direkt am Eingang des Pantanal das Ziel der abenteuerlichen Reise erreicht.
Wer nun nicht einfach nur Übernachten und am nächsten Morgen die Rückreise antreten will, der sollte frühzeitig ein komplettes Paket mit Ausflug auf eine Fazenda gebucht haben. Aber auch die Weiterreise nach Bonito mit seinen kristallklaren Gewässern und malerischen Grotten ist möglich. In der ganzen Region kommen Naturfreunde voll auf ihre Kosten. Ob die Beobachtung von Vögeln, Wasserschweinen oder Kaimanen, das Fischen von Piranhas, Reitausflüge oder Bootstouren – das gewaltige Ökosystem des Pantanal hat viel zu bieten.
Doch eines muss man erwähnen: die Fahrt im liebevoll renovierten „Trem do Pantanal“ ist nichts für den schmalen Geldbeutel. Umgerechnet 38 Euro kostet die einfache Fahrt von Campo Grande bis Miranda, Kinder zahlen 16 Euro (Stand 11/2011). Einheimische, die den Zug als normales Transportmittel benutzen, findet man daher nicht in den Abteilen. So bleibt dem kleinen Adriano nichts anderes übrig, als jeden Samstag und Sonntag aufs Neue den Menschen hinter den Scheiben zuzuwinken. Und weiter davon zu träumen, selbst einmal seine Heimat aus diesem ganz besonderen Blickwinkel zu erleben: bei einer romantischen Bummelfahrt durch das südliche Pantanal in Brasilien.
- Webseite des „Trem do Pantanal“ (port./engl./span.)